Podcast episode by Dachverband Tanz about the format of OPEN STUDIOS:
Deichkind in Hamburg: Zwischen Kunst- Performance und Techno-Oper
von Wolfgang Dinter, 27. August 2023
Die Hamburger Formation Deichkind begeisterte gestern Abend mit einer großartigen Performance ihre mehr als 25.000 Fans auf der Trabrennbahn in Hamburg-Bahrenfeld.
Sie haben es im Vorweg schon gesagt: Das Konzert in Hannover war nur zum Warmwerden. Deichkind ist Hamburg. 25.000 Fans zog es auf die Trabrennbahn in Bahrenfeld - keine homogene Truppe in uniformartiger Bekleidung, sondern ein wilder Mix aus allen Stilrichtungen: Frauen im Schlabberpulli, Männer in kurzen Hosen, in Vollverkleidung oder wie Deichkinder aufgerüscht und bunt bemalt. Was sie eint: friedlich miteinander feiern. Ihr Ziel: Party machen, den Alltag vergessen, Deichkind leben.
Plakative, poetische Texte und irre Choreografien
Das Konzert starten die Deichkinder mit "99 Bierkanister". Bei Deichkind stören keine Musiker auf der Bühne. Alles wirkt wie eine große Performance. Großartig gestylt, schreiten die drei Bandmitglieder über die Bühne, unterstützt von - sagen wir - Tänzern. Die bewegen sich synchron zu den Rappern - und die hauen ihre Songs raus. Manchmal plakativ und simpel, dann wieder fast poetisch und stilsicher. Dazu kommen irre Choreografien, wie man sie sonst nur vom Tanztheater kennt. Das nötigt dem Kritiker Respekt ab.
Die Fans steigern sich langsam in Ekstase. Die kulminiert dann bei Songs wie "Bon Voyage", dem bereits einem Vierteljahrhundert alten Hit aus der Anfangszeit von Deichkind. "Bück dich hoch", "Arbeit nervt", "Leider geil": Es sind all diese Lieder, die sich im Alltag längst zu geflügelten Worten entwickelt haben. Das ist ihnen egal. Das bekommen sie gar nicht mit, sagen sie.
Deichkind - das sind Philipp Grütering, Henning Besser und Sebastian "Porky" Dürre. Wie und wann sie die Idee hatten, die guten alten Hip-Hop-Pfade zu verlasssen und Elektrosounds für sich entdeckt haben, wissen sie gar nicht mehr so genau. Ein Deichkind-Konzert ist wie eine Techno-Oper mit Sprechgesang - das ist der Stand der Dinge.
Manchmal beschleicht einen das Gefühl, auf einer Kunst-Performance zu sein. So etwas Ähnliches sah man zuvor bestenfalls bei den Pet Shop Boys. Aber Deichkind verharren nicht in dieser Ästhetik, sondern reißen alle Konzertgänger mit. Die springen und hüpfen auf Aufforderung; die Begeisterung wächst mit jedem Song. Am Ende kommt nach zwei Stunden "Krawall und Remmidemmi", Schlusspunkt und Finale der Deichkind-Show. Großartig. Einmalig. Deichkind.
Online unter: NDR Kuktur
Humorvoll und sinnlich: Ballett auf Kampnagel weckt Tanzlust
von FALK SCHREIBER, 19. Januar 2023
Mit „Ensemble“ beendet Choreografin Jenny Beyer auf Kampnagel ihre „Trilogie der Begegnung“. Ein starker Abend.
Hamburg. Das „Ensemble“ ist schon da. Man betritt die Kampnagel-Halle durch die Hintertür, während auf der Bühne längst getanzt wird, nicht koordiniert, aber immerhin: Rosalías „Saoko“ dröhnt ohrenbetäubend aus den Boxen, acht Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich einzeln, immer wieder schälen sich Strukturen heraus, Israel Akpan Sunday und Nina Wollny suchen den Kontakt, ein angedeuteter Pas de deux, kurz aufscheinende Intimität, dann lösen sich die Bilder wieder auf, verschwinden im Beat und in der Gruppe.
Jenny Beyer beendet mit „Ensemble“ ihre „Trilogie der Begegnung“. Nach dem Solo in „Début“ (2019) und dem Pas de deux in „Deux“ (2021) geht es jetzt um das Corps de Ballet, die Gruppe, die im klassischen Ballett als großer Gleichmacher fungiert, und die bei Beyer de- und rekonstruiert wird. Ein Körper, der aus Individuen besteht, die als Einzelpersonen kenntlich bleiben.
ABSTRAKTE ÄSTHETIK UND NÄHE ZUM KLASSISCHEN BALLETT
Manchmal entwickeln sich kurze Gruppenchoreografien aus der Bewegung heraus, synchrone Figuren, die ihre Wurzeln im klassischen Ballett haben, aber das sind zeitlich begrenzte Passagen, die das Ensemble nicht in ein vorgegebenes Muster zwängen. Was verstärkt wird durch die bewusst diverse Zusammensetzung: Menschen, die dünn sein können oder muskulöser, die geschlechtlich eindeutig zuordenbar sein können oder nicht binär, die unterschiedliche Hautfarben haben können. Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit, die kurz eine Einheit bilden, im Rhythmus und in der Bewegung.
Unter den zentralen Protagonistinnen der freien Hamburger Tanzszene war Beyer immer schon diejenige mit der abstraktesten Ästhetik, auch diejenige mit der größten Nähe zum klassischen Ballett. Diesen Ansatz treibt „Ensemble“ auf die Spitze, umgeht dabei aber geschickt die Gefahr intellektueller Sprödigkeit: indem immer klar ist, dass es hier um echte Körper geht.
BALLETT – UND PLÖTZLICH MÖCHTE MAN SELBST TANZEN
Um Körper, die schnaufen und schwitzen, deren Fußsohlen auf den Boden klatschen. Das Ballett mag ätherische Luftwesen als Ideal haben, Bayer aber zeigt Fleisch und was dieses Fleisch so machen kann. Und plötzlich möchte man selbst tanzen, in dieser reizend tanzkritischen Choreografie. Gegen Ende wird eine Zuschauerin von Chris Leuenberger auf die Bühne gebeten, und, ja, sie scheint sich wohlzufühlen.
Der Abend ist vom Ansatz her ein Nachdenken über die (Zwangs-)Strukturen der Ballettkonvention, aber er ist auch humorvoll und sinnlich, er freut sich über die Körperlichkeit, er reißt mit, mit seinem Spiel mit dem Unfertigen. Und er zeigt damit: Die Choreografin steht Solo, Pas de deux und Corps de Ballet kritisch gegenüber, aber in dieser Kritik steckt vor allem tief empfundene Liebe.
German only
Ballet Deconstructed
Ursina Tossi und Jenny Beyer im Gespräch
von PETER SAMPEL, 12. Dezember 2022
Die etablierten Hamburger Choreografinnen proben derzeit auf Kampnagel an ihren Stücken, in denen sie sich kritisch mit Ballett auseinandersetzen. In einem offenen Gespräch reflektieren sie über ihre Arbeitsweise, ihren Bezug zum Ballett und ihr Bemühen um einen besseren Zugang zum Tanz.
Es gibt Gesprächsbedarf. Das wird ganz offenbar, als ich mich am Montagmorgen auf der Probebühne mit den Hamburger Choreografinnen Ursina Tossi und Jenny Beyer treffe. Beide proben sie gerade auf Kampnagel ihre Produktionen, die sich kritisch mit dem Ballett auseinandersetzen. Ursina Tossis Team befindet sich bereits in den Endproben, ihr „Swan Fate“ wird am 14. Dezember Premiere feiern. Jenny Beyer hat noch ein wenig mehr Zeit. „Ensemble“ wird vom 18. bis 21. Januar auf Kampnagel zu sehen sein. Dass ein Gespräch über die Strukturen des Balletts, seine Verbindungen zum Zeitgenössischen Tanz und über die persönlichen Verbindungen der Choreografinnen zu diesem Thema ein Fass ohne Boden ist, ist wohl keine Überraschung. Und dennoch entpuppt sich das offene Gespräch der wohl etabliertesten Choreografinnen der Hamburger Freien Szene auch als ein wertvoller Moment des produktiven Austauschs untereinander.
Ursina Tossis und Jenny Beyers kritischer Umgang mit dem Ballett resultiert aus unterschiedlichen biografischen Hintergründen, die letztlich doch wieder auf dieselben sich dahinter verbergenden Strukturen verweisen. Die Schlagworte Klassismus und problematische Körperideale fallen da in den Raum. Während der Traum von Ballettunterricht in Ursina Tossis Kindheit aus finanziellen Gründen unverwirklicht blieb, wurde Jenny Beyer bei einer Audition an der Ballettschule des Hamburg Ballett aus dem Grund nicht genommen, dass die Kommission die damals Neunjährige, ungeachtet ihres Talents, als zu dick empfand.
Beide erlangten sie schlussendlich doch einen professionellen Tanzausbildungsplatz – Ursina Tossi startete mit 23 Jahren eine von Ballett geprägte Ausbildung in Ludwigshafen, Jenny Beyer mit 14 an der Ballettschule des Hamburg Balletts – rückblickend sprechen sie über diese Zeit allerdings eher negativ. „Es war schon eine toxische Ausbildung, die ich da erlebt habe,“ meint Ursina Tossi und erzählt davon, dass die Lehrer*innen an ihrer Akademie regelmäßiges Wiegen androhten. „Man hat einfach von der Atmosphäre her gemerkt, dass die Lehrer*innen ihrerseits von ihrer autoritären Ausbildung traumatisiert waren und uns in ihrer Traumatisierung oft überfordert haben mit Dingen, mit denen wir nicht klarkamen.“ Jenny Beyer wiederum berichtet von einem ambivalenten Gefühl während ihrer Ausbildungszeit, in dem sich der Stolz durch den äußeren Druck kontinuierlich mit den sich aufdrängenden Gedanken, nicht gut genug zu sein, mischte. Beide haben sie sich von der Ballettwelt distanziert und trotzdem kam das Interesse zurück, sich nun mit dem Ballett auseinanderzusetzen.
„Ensemble“ ist der dritte Teil von Jenny Beyers „Encounter“-Trilogie. Gerne nimmt sie formale Fragen als Anlass für einen Probenprozess und setzte sich somit in Teil 1 („Début“) mit dem Solo und Teil 2 („Deux“) dem Pas de Deux auseinander. Im dritten Teil geht es nun um das Corps de Ballet. Die Ballettreferenz versteht Jenny Beyer dabei nur als kreativen Input, den sie ihrer sehr heterogenen Gruppe von Tänzer*innen anbietet. In der Zusammenstellung des Teams für „Ensemble“ war Jenny Beyer explizit auf der Suche nach einem diversen Ensemble – mit Tänzer*innen mit verschiedenen Hintergründen und künstlerischen Praktiken – gewesen: „Für mich stellt sich dann die Frage, was ein Unisono, das ich mit Corps de Ballet verbinde, in so einer Gruppe überhaupt sein kann, wenn die Voraussetzungen derselben technischen Prägung aus dem Ballett gar nicht da sind. Wir suchen also nach interessanten Anknüpfungspunkten und sehen das Format des Unisono als Angebot, mit dem wir spielen können, um die Details und Unterschiede jedes Menschen zu feiern. Unterschiede sieht sie als Chance, weshalb das Team im Probenprozess auch von „Drifts“ anstatt von „Fehlern“ im Tanz spricht.
In ihren Ausführungen spielt Jenny Beyer auf die sehr formalen Vorstellungen des Balletts darüber, was Tanz ist, an und erzählt, dass sie selbst eine Weile während ihrer zeitgenössischen Tanzausbildung in Rotterdam brauchte, um sich vom Leistungsprinzip und der „Ästhetikbrille“ zu lösen. „Mein Blick auf Körper und Tanz hat sich geändert. Und trotzdem ist das Ballett in meinem Körper drinnen und ich finde es interessant, mich damit auseinanderzusetzen, was auch positive Qualitäten sind, jenseits dieses ganzen Leistungsprinzips und auch der Gewalt, die in der Ballettausbildung steckt und die ja auch zum jetzigen Zeitpunkt noch überhaupt nicht aufgearbeitet ist.“
Bei Ursina Tossi geht es noch weiter in Richtung einer Dekonstruktion bestehender mit dem Ballettkanon verknüpfter Strukturen. Dass sich das Team kritisch mit „Schwanensee“ beschäftigt, hat einen einfachen Grund: „Jeder westeuropäische Mensch kennt zumindest den Titel. Da sind sofort die weißen Tutus und andere kulturelle Bilder im Kopf.“ Wichtig ist ihr dabei, sich über die Körper Gedanken zu machen, die nicht zur Ballettwelt gehören: „Wir setzen uns auseinander mit der gewaltvollen Geschichte von Ballett und der Gewalt, die auch heute noch ausgeübt und auch sichtbar auf der Bühne wird. Was abgebildet wird, ist Macht, und was gefordert wird vom Körper, ist Kontrolle. Und das funktioniert nur durch eine Spaltung in die Instanz, die fordert, und die, die folgt – und das ist dann der Körper selbst. Diese Spaltung als Körpertechnik hat uns interessiert.“
Grundlage für den Probenprozess war eine Recherchewoche mit Manrique (Umberto Acosta Rodriguez), der zehn Jahre am kubanischen Staatsballett war und dort als einer von wohl nur zwei People of Colour weltweit den Siegfried in „Schwanensee“ getanzt hat. „Wir haben über die Art und Weise gesprochen, wie ihm „Schwanensee“ damals nahegelegt wurde, wie er seine Ausbildung wahrgenommen hat, wie er die Balletttechnik an seinem Körper erlebt hat.“
Wie bei Jenny Beyer kommen die Tänzer*innen in „Swan Fate“ aus unterschiedlichen Kontexten, Kulturen und Tanzstilen. Ballettreferenzen werden dabei vereint mit Hip-Hop oder Urban Styles wie Waacking. „Wenn wir mit etwas wie „Schwanensee“ arbeiten, wird das komplett zerlegt,“ meint Ursina Tossi zu ihrer Praxis. „Wir haben uns zwar mit dem Plot auseinandergesetzt, aber nicht mit Rollen gearbeitet. Wir haben mit den Ideen geprobt, die beim Angucken von „Schwanensee“ gekommen sind. Aus einem Pas de deux wurde z.B. Pas de troix. Oder wir haben an einer Perspektivenvervielfältigung der Plotinterpretationen gearbeitet.“ Trotz des dekonstruierenden Ansatzes betont Ursina Tossi den Spaß am Umgang mit „Schwanensee“ und das generelle Interesse am Ballett seitens des Teams. „In anderen Ausbildungen wird das Ballett nur am Rande kennengelernt. Daraus ist ein spielerischer Umgang mit dem Bild, das man von Ballett hat, entstanden. Die Lust, sich darin auszudrücken, hat mich überrascht, aber dann total motiviert.“
Ein Schwerpunkt in Ursina Tossis Arbeit besteht in der Bemühung um eine bessere Zugänglichkeit für ein breiteres Publikum zum Tanz. Dodzi Dougban, ein tauber zeitgenössischer und Hip-Hop Tänzer, tanzt im Ensemble und nutzt Deutsche Gebärdensprache, um Textpassagen zu übersetzen oder in Gebärdensprach-Poesie zu übertragen. Zusätzlich berät er das Team von „Swan Fate“ in Zugänglichkeitsfragen. Außerdem weben die Beteiligten der Produktion die sogenannte integrierte Audiodeskription ein. Das funktioniert einerseits durch eine Beschreibung des Bühnengeschehens von außen, andererseits aber auch durch eine Selbstbeschreibung der Tänzer*innen. „Die Selbstbeschreibung kann auch eine Selbstermächtigung sein, weil ich Kriterien vorgeben kann, wie ich beschreiben werden will, wenn ich mich bewege. Und ich kann mich selbst äußern, was in klassischen Audiobeschreibungen nicht der Fall ist. Da werden häufig rassistische, sexistische oder anderweitig diskriminierende Stereotype reproduziert. Eine queer-feministische integrierte Audiobeschreibung fragt erst einmal danach, wie jemand beschrieben werden will, und stellt Vorschläge zur Disposition.“
Das Team versteht die integrierte Audiodeskription und die dazugehörige Soundebene nicht als Übersetzung des Stücks, sondern vielmehr als gleichwertig existierendes Parallelstück, dass nicht nur die Zugangsbarrieren, die insbesondere das Ballett durch seine spezifischen Codes, aber auch der Zeitgenössische Tanz mit sich bringt, abbaut, sondern auch für das sehende Publikum ein Zugewinn sein kann. Ursina Tossi ist überzeugt: „Ich glaube, dass die Stücke der Zukunft alle integrierte Audiobeschreibung haben sollten, in der ein oder anderen Form.
Auch Jenny Beyer hat seit einigen Jahren eine einzigartige künstlerische Praxis entwickelt, um bessere Zugänge zum Tanz zu schaffen. Seit 2014 organisiert sie – durch ihre Förderung regelmäßig – die „Offenen Studios“, in der sie Menschen zum Austausch über ihre künstlerischen Prozesse einlädt. Mal findet das auf der Probebühne statt, mal besucht sie mit einigen Teammitgliedern Kulturzentren, wie beispielsweise das im Hamburger Stadtteil Eidelstedt. „Ich bringe dann immer Dinge mit, die wir sonst auch bei uns im Studio machen: Was passiert, wenn wir das hier bei Euch machen, was verändert sich? Dadurch entstehen automatisch Gedanken und Ansätze, die auch in die Stücke einfließen, nicht immer 1:1, aber Leute, die öfter zu Offenen Studios und dann zur Aufführung kommen, werden bestimmt Dinge wiedererkennen.“
Die Offenen Studios finden nicht nur dann statt, wenn Jenny Beyer konkret an ihren Stücken probt, sondern bieten den Teilnehmer*innen unabhängig davon eine Möglichkeit der Begegnung, einen Einblick in ihre künstlerische Praxis und animieren dazu, sich selbst zu bewegen. „Dahinter steckt der Wunsch, die Distanz zwischen meinem künstlerischen Schaffen und dem Publikum zu überbrücken. Ich liebe es, zu proben und Stücke zu machen, aber die meisten Menschen bekommen gar nicht viel davon mit. Ich finde schön, dass jedes offene Studio ein Erlebnis für sich ist, das nicht in einer Aufführung resultieren muss. Das entlastet die Stücke ein bisschen von dem Druck, dass in der Aufführung alles passieren muss: die Begegnung, die Ästhetik, die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Prozesse sind viel größer. Wenn ich früher mit Leuten in Begegnung komme, passieren viele Dinge viel früher.“
Es ist eine der großen Herausforderungen des zeitgenössischen Theaters: Der Weg raus aus dem Elitarismus hin zu einem Ort, der für alle Menschen gleichwertig zugänglich sind. Ursina Tossi und Jenny Beyer haben dafür schon einen wichtigen Vorreiter-Schritt in die Praxis getan. Mögen es ihnen weitere Künstler*innen nachtun.
„Swan Fate“ von Ursina Tossi vom 14. bis 17. Dezember, jeweils 21 Uhr, Kampnagel Hamburg
„Ensemble“ von Jenny Beyer vom 18. bis 21. Januar, jeweils 19.30 Uhr, Kampnagel Hamburg
Online unter: https://www.tanznetz.de/de/article/2022/ballet-deconstructed
OPEN STUDIO at Kulturhaus Eidelstedt
TV feature by noa4, 15.09.2022
Available online: https://vimeo.com/768008966
The rights remain with on air new media GmbH.
Wenn sich Musik in Tanz verwandelt
von DAGMAR ELLEN FISCHER, 13. Dezember 2021
Spricht Musik direkt zum Herzen? Oder gelangen Töne übers Ohr in den gesamten Körper, den sie dadurch in Bewegung versetzen? Soviel ist sicher: Die Beziehung zwischen Klängen und menschlicher Körperbewegung ist direkt und ursprünglich. Darauf vertraut auch Jenny Beyer in ihrer Produktion Suite. Zum ersten Mal gestaltet die Hamburger Choreographin für junges Publikum. Ihr Anliegen: Kinder sollen verstehen, wie sich Musik in Tanz verwandeln kann.
Als Ausgangspunkt wählte sie die „Suite für Violoncello solo Nr. 1“ von Johann Sebastian Bach. Die einzelnen Sätze tragen zwar Titel von (historischen) Tänzen, doch getanzt hat dazu im 18. Jahrhundert – als Bach sie komponierte – schon niemand mehr. Dennoch reagiert die Choreographin, die früher selbst Cello spielte, bei ihrer Gestaltung auf die unterschiedlichen Stimmungen von Prélude, Allemande, Courante, Sarabande, Menuett und Gigue. Die unmittelbare Verständigung zwischen der live musizierenden Cellistin Lea Tessmann und den beiden Tanzenden Jenny Beyer und Joel Small gehörte dabei von Anfang an zum Konzept.
PRÉLUDE
Die Aufführung am Vormittag auf Kampnagel verfolgen mehrere Schulklassen, platziert in einem weiten Kreis um die Akteur*innen herum. Diese Anordnung ist deutlich geeigneter für eine direkte Kommunikation zwischen Darstellenden und Publikum. Schon beim Einlass locken Stimmen aus kleinen (Lautsprecher)Würfeln, die über dem Bühnenraum von der Decke baumeln: Eingefangene Statements von Kindern, zahlreich und zeitgleich wiedergegeben, so dass sie sich zu einem Stimmenbrei vermischen.
Tatsächlich beginnt die Live-Musik der Aufführung ohne Bach: Am Anfang beklopft die Cellistin ihr Instrument, woraufhin Jenny Beyer das Gleiche mit dem Rücken ihres Kollegen macht. Auch Streich-, Rubbel- und Wischbewegungen auf dem Cello imitiert sie mit entsprechenden Berührungen ihres Partners, bis sich schließlich Cello-Töne und Bewegungen in einem regelmäßigen Rhythmus gemeinsam einpendeln. Auch zum folgenden Rollentausch – Joel ist der Aktive, der Jenny bewegt, schüttelt und einzelne Körperteile von ihr anhebt – erzeugt Lea das passende akustische Pendant. Auf diese Weise entwickelt sich ein Dialog zwischen den nun gleichermaßen aktiven Tanzpartner*innen einerseits und der musikalischen Improvisation andererseits.
Als Lea mit Bachs Prélude einsetzt, gehört Joel der Raum zunächst allein: Er läuft, stoppt plötzlich und spielt den Erschrockenen – die Kinder lachen über den provozierten Schreckmoment. In Jennys Solo dominieren im Folgenden schlängelnde Bewegungen. Erst im nächsten Satz finden beide tanzend zusammen, dicht hintereinander einer als Echo der anderen. Alternativ zum traditionellen Paartanz hebt sie ihn. Für Kinderaugen unvertraute Sequenzen wechseln mit solchen, die vermutlich bekannte Bilder hervorrufen, wie das Prellen von Bällen – ohne Bälle. Sobald eine Bewegung mehrfach wiederholt und somit nachvollziehbar wird, versuchen einige Kinder, sie zu imitieren. Joel lauscht am Cello, Jenny lauscht an Lea.
COURANTE
Bei jedem Suiten-Satz findet die Cellistin einen neuen Sitzplatz, sodass sich die räumlichen Abstände zwischen den Akteur*innen verändern. Auch die Bewegungsqualitäten wechseln, so sind mitunter aggressives Boxen, unkontrolliertes Schleudern, dann wieder Bewegungen in Zeitlupe zu sehen. Es gibt Phasen, in denen sich Jenny und Joel in schnellem Tempo zu langsamer Musik bewegen oder sich sogar von deren Metrum gänzlich unabhängig machen. Verbeugungen zitieren das Vokabular der im 17. Jahrhundert populären Tänze, dann wiederum konterkarieren Jazzwalks die Anspielungen auf höfische Etikette. Auch Alltagsbewegungen aus unserem Jahrhundert werden eingebaut, so beispielsweise Kopf-Wackeln, Winken, Krabbeln.
Alle drei Akteur*innen tragen Jogginganzüge in einer Farbkombination aus hellgrau und knallrot. In einer Satz-Pause legen die Tanzenden sie ab und zeigen die darunter versteckten Outfits mit Leopardenmuster. Während Jenny auf der äußeren Kreisbahn nah an den Publikumsreihen entlang tanzt, versuchen einige Jungen vorsichtig, Jennys Leoparden-Leggins mit ihren Fingerspitzen zu berühren: Die Einladung zu kommunizieren, funktioniert.
Zum letzten Satz der Suite, der fröhlichen Gigue, setzen sich alle Drei dicht hintereinander auf einen Hocker: vorne Lea mit dem Cello, dahinter Jenny, dann Joel. Leas musizierende Streichbewegungen ahmen die beiden anderen wie Schatten nach, auch setzen sie ihre Hände zusätzlich auf das Griffbrett des Instruments. Schließlich separieren sich die individuellen Drillinge, bewegen sich ein letztes Mal individuell und beenden die Vorstellung gemeinsam mit dem letzten Ton, der finalen Geste, während es im selben Moment dunkel wird.
MENUETT
Dem Warm-up bzw. Tune-in am Anfang entspricht ein Cool-down am Ende: In drei Gruppen aufgeteilt, können die Kinder jeweils einem der drei Mitwirkenden Fragen im Anschluss an die Aufführung stellen. Da wird gefragt, warum das Licht wechselte, wie lange es dauerte, sich alles zu merken und warum die Jogging-Anzüge ausgezogen wurden. Jenny wurde gefragt, ob es für sie schwierig war, ihren Tanzpartner hochzuheben – die bewusst umgekehrte Variante wurde offenbar bemerkt.
Eine gemeinsame Aktion, die sich auf die Einleitung bezieht, macht die Vorstellung final schlüssig und rund: Was Lea auf dem Cello spielt, können die Kinder mit ihren Händen auf dem eigenen Körper nachahmen: Die Musik klingt wie tasten, trommeln, prickeln, streichen, klopfen und endet mit einer von Jenny so benannten „Schüttelmusik“, zu der sich alle wild und schüttelnd austoben dürfen.
Eingerahmt von den spielerischen Anteilen am Anfang und Ende der Aufführung, in denen vielfältige, auch perkussive akustische Reize die Fantasie der Anwesenden anregen, wirken die anspruchsvollen Cello-Suiten als musikalischer Kern im Kontrast dazu umso kunstvoller; zugleich relativiert diese freiere Musik die Bach’schen Kompositionen und bewirkt einen leichteren Zugang zu ihnen. Die gegenseitige Aufforderung zum Tanz, die Jenny und Joel zelebrieren, setzt sich folgerichtig fort und bezieht das Publikum im Laufe der Aufführung mit ein.
Erarbeitet wurde die Choreographie über längere Phasen der Improvisation, so dass letztlich jede*r der beiden Tanzenden eigene Motive und Bewegungsfolgen entwickeln konnte, die zu ihrem bzw. seinem Körper passen und entsprechend überzeugend präsentiert werden können. Die unterschiedliche Physis der Drei, aber auch die physikalische Anwesenheit des Cellos, bieten verschiedene Identifikationsangebote für Kinder. Ergänzend transportiert die Choreographie nonverbal Botschaften wie „Tanzen ist unabhängig vom Geschlecht“ und hinterfragt per Körpersprache fast beiläufig überholte geschlechtstypische Rollen im Tanz. Zusätzliche Sound-Elemente des Künstlers Jetzmann, mit dem Jenny seit Jahren zusammen arbeitet, öffnen Kinder-Ohren für Brüche: „Ich mag es, wenn nicht nur Bach zu hören ist“, sagt die Choreographin. Ihr war es ein Anliegen, Kindern zu vermitteln, dass es kein falsch und richtig gibt, wenn Bewegung zu Musik erfunden wird. Dazu dienen auch jene Passagen der „Suite“, in denen Stillstand zu bewegter Musik zu sehen ist und komplexe Bewegungen zu musikalischen Pausen passieren dürfen. Musik inspiriert, aber zwingt keine Bewegung auf.
GIGUE
Warum aber bringt Musik Menschen in Bewegung? Das mag zum einen daran liegen, dass im Phänomen Schall eine Bewegung schon angelegt ist, denn alles, was wir akustisch wahrnehmen, ist nichts anderes als mechanische Schwingung. Seziert man Musik in die Bestandteile Rhythmus und Melodie, so finden sich im Bereich Rhythmus Schnittmengen mit dem menschlichen Körper: das Auf und Ab der Atembewegung und der Pulsschlag des Herzens. Außerdem evoziert die dualistische Anlage des Körperbaus rhythmisch geordnete Bewegungen wie gehen, laufen, hüpfen und springen.
Ein Indiz für diese Tatsache ist schon bei Kleinkindern zu beobachten: Die meisten auch sehr jungen Kinder reagieren, sobald sie Musik hören, mit Körperbewegungen, die sich deutlich von Alltagsbewegungen unterscheiden und die man im weitesten Sinn Tanz nennen kann. Auch aus den Kindertagen der Menschwerdung ist bekannt, dass in archaischen Ritualen sowohl Tanz als auch Töne in gezielter Abstimmung aufeinander eine bedeutende Rolle spielten. Und vor über 2000 Jahren gab es in der griechischen Antike für eine aus Tanz, Musik und Dichtung bestehenden Bühnenkunstform nur ein gemeinsames Wort: musikē.
Musizieren ist immer auch Bewegung. Jenseits der Schwingung der erzeugten Töne bewegen sich die Musizierenden selbst und mit ihnen (meist) auch das Instrument.
Jenny Beyers Suite vertraut diesen vielfältigen Bezügen auf unterschiedlichen Ebenen, und sie traut dem jungen Publikum zu, selbst weitere Anknüpfungspunkte zu entdecken. Im Probenraum des kreativen Teams hingen zu Beginn der Arbeitsphase jede Menge inspirierende und motivierende Fragen. Eine lautete: „How to get into Bach?“ Besser als mit Suite kann man sie kaum beantworten.
Nähe ohne Berührung
by BIRGIT SCHMALMACK, 11. April 2021
Bewegung teilen über Entfernung. Begegnung erlauben aus der Distanz. Nähe erleben ohne Berührung. All das und noch mehr versuchen die drei Tänzer*innen Jenny Beyer, Chris Leuenberger und Nina Wollny in ihrer hybriden Arbeit "Deux".
Wenn Jenny ihre Hand ausstreckt, scheint sie Ninas Hand zu berühren. Doch es ist nur die die Berührung zweiter projizierter Bilder. Denn Jenny steht in der Hamburger Halle auf Kampnagel und Nina in ihrem Studio in norwegischen Trondheim und die einzelnen Zuschauenden sitzen irgendwo an ihren Endgeräten. Dennoch gibt es die Momente, in denen der Eindruck entsteht, dass die beiden Frauen tatsächlich zu einer tänzerischen Verständigung finden und dies sogar mit ihrem nur virtuell anwesenden Publikum teilen können. Sie ahmen einander nach und suchen den Einklang in ihren Bewegungen. Sie spiegeln sich, sie stoßen sich an und sie streicheln sich mit ihren Haaren. Sie kommen sich sehr nah und entfernen sich wieder von einander.
Im zweiten Pas de Deux sind Jenny und Chris nur als Schattenrisse im grellen Gegenlicht zuerkennen. Vor der hell erleuchteten Hinterwand scheinen sie zu einem Körper zu verschmelzen. Sie lehren ihren Rücken aneinander, ohne sich jedoch tatsächlich zu berühren. Auch in der vermeintlichen Nähe des geteilten Studios ist keine Berührung möglich. Im letzten Teil versuchen Chris und Nina eine Verständigung über gemeinsam geteilte Erinnerungen. Vorsichtig mit großer Achtsamkeit werden nun, wie zuvor die Bewegungen, die Worte und Beschreibungen gesucht, die die Distanz überwinden könnten.
"Deux", der zweite Teil einer Trilogie zu klassischen Tanzformen, ist eine Arbeit, die von dem tiefen Wunsch nach Intimität spricht, die nicht nur in diesen Zeiten so sehnsüchtig vermisst wird. Auf vielfältige Weise spüren die drei Tänzer*innen diesen Gefühlen nach. Eine weitere Ebene, die jeder dieser Live-Abende suchte, war die Nähe und der Austausch mit dem Publikum der Zoom-Konferenz. Auch hier nutzte die Choreographin Jenny Beyer die digitalen Mittel so locker und geschickt, dass für einen kurzen Moment eine Begegnung auch in dieser Form erlebbar wurde.
Ein zutiefst sehnsüchtiges Tanzstück auf Kampnagel
von FALK SCHREIBER, 09. April 2021
Das Tanzstück „Deux“ ist auf den ersten Blick spröde. Auf den zweiten Blick überzeugt es durch Intimität in Zeiten von Kontaktverbot.
HAMBURG. Nach knapp einer Stunde, kurz vor Schluss, kommt Chris Leuenberger auf den Punkt. „Nina“, kündigt der Tänzer an, „ich würde jetzt gerne über unsere Beziehung reden.“ Was insofern bemerkenswert ist, weil Jenny Beyers Tanzstück „Deux“ bis zu diesem Punkt schon eine erschöpfende Studie war über Beziehungen, Berührungen, Anziehungen und Abgrenzungen, und jetzt möchte Leuenberger auch noch mit Nina Wollny darüber reden. Na gut.
„Deux“ ist der zweite Teil von Beyers „Trilogie der Begegnung“, einer dreiteiligen Untersuchung von klassischen Ballettformaten. „Début“ konzentrierte sich aufs Solo, geplant ist eine Arbeit zum Corps de Ballet, und aktuell geht es um den Pas de deux. Dass die Arbeit in Zeiten von Corona nur online gezeigt werden kann, ist das eine, dass aber auch die Entwicklung des Stücks durch die Pandemiemaßnahmen beeinträchtigt wurde, das andere: Beyer lebt in Hamburg, Leuenberger in der Schweiz, Wollny im norwegischen Trondheim.
BEYER UND LEUENBERGER PERFORMEN AUF KAMPNAGEL
Gemeinsame Proben mit Beyer und Leuenberger wurden immerhin noch durch eine Residency in Zürich ermöglicht, Wollny aber konnte ihren Wohnort nicht verlassen und musste per Videosoftware zugeschaltet werden. Die Studie über Beziehungen wurde so zu einer Durchleuchtung von Beziehungen in Zeiten der Beziehungslosigkeit. Corona-Tanz at its best.
Das Publikum sieht also Beyer und Leuenberger, wie sie auf Kampnagel kurze Bewegungsfolgen performen, meist auf klassischen Figuren basierende Skizzen, die freilich mehr Andeutung sind als echter Tanz. Wollny derweil wird live aus Trondheim zugeschaltet, ihr Spiel wird an die Bühnenwand projiziert. Manchmal vollziehen Beyer und Wollny Spiegelbewegungen, und plötzlich brechen diese Parallelen zusammen – von solchen Details lebt „Deux“, wenn die Synchronisierung sich auflöst, wenn sie sich wiederfindet, wenn sich also tatsächlich eine Beziehung zwischen den Tänzerinnen entwickelt und wieder verschwindet.
UNMÖGLICHKEIT VON BEGEGNUNG ANGESICHTS VON KONTAKTVERBOT
Dabei ist der Abend über weite Teile nüchtern bis spröde: Lange Zeit tut „Deux“ nicht einmal so, als ob hier zwei Künstlerinnen über 1300 Kilometer Entfernung miteinander tanzen würden, Beyer stellt ihr Nachdenken über Tanz als Bühneninstallation aus. Erst Leuenberger ist nach einer knappen halben Stunde ein Katalysator, der tatsächlich einen Kontakt ermöglicht. Der dann in so kurzen wie berückend schönen Fensterbildern ausgespielt wird, mit Blick auf eine nächtliche, verschneite Stadt, hoch im Norden.
Beyer spielt mit der Unmöglichkeit von Begegnung und Berührung, angesichts von Kontaktverbot und Ausgehbeschränkungen. „Deux“ erweitert sich so über die reine Bewegungsstudie hinaus, gewinnt einen Moment der Sehnsucht: Ja, echte Beziehungen sind gerade nicht möglich.
ZUTIEFST INTIMES STÜCK AUF KAMPNAGEL
Aber wünschen darf man sich diese Beziehungen, man darf sie sich so sehr wünschen, dass der Wunsch schmerzhaft wird. „Ich würde jetzt gerne über unsere Beziehung reden“, meint Leuenberger kurz vor Schluss, nachdem sein Körper schon mehrere Berührungserinnerungen durchlebt hat, und spätestens jetzt hat man verstanden, was für ein zutiefst sehnsüchtiges, intimes, melancholisches Stück dieses auf den ersten Blick spröde „Deux“ eigentlich ist.
Kein Ding, Digger, das Ding hat Swing
von FALK SCHREIBER, 05. August 2020
Jenny Beyer choreografiert die Band DEICHKIND.
Subtil geht anders. Ein wuchtiger Beat wummert, ein gnadenlos tiefer Bass prügelt einem in den Magen und 12000 Zuschauer in der Hamburger Barclaycard Arena grölen „1000 Jahre Bier“: „Drei Liter Malz / Rein in den Hals / Genauso, Mann / Jetzt hast du’s geschnallt.“ Die Band Deichkind segelt dazu in einem riesigen Bierfass durch die tobende Menge. Prost.
Aber der Deichkind-Auftritt in der fast ausverkauften Multifunktionshalle ist kein reines Sauf-Party-Event. Sondern ebenso eine konsequent durch choreografierte Inszenierung. Sie lässt sich zwar bei Gelegenheit auch auf den großen Bierdusche-Exzess einlässt, dazu aber immer häufiger ins Abstrakte traut, bei Songs wie „Dinge“ https://www.youtube.com/watch?v=XLhQvgdXbgo, deren Sprachwitz weit entfernt von „Malz in den Hals“ liegt: „Kein Ding, Digger, das Ding hat Swing“ wird gerappt, und irgendwo zwischen „1000 Jahre Bier“ und „Dinge“ liegt der Reiz von Deichkind versteckt. Nicht nur textlich, auch optisch. Verantwortlich für die Bühnenshow: unter anderem Regisseur Henning Besser und Choreografin Jenny Beyer, sonst gefeierter Star der Hamburger freien Szene, künstlerisch im Hamburger Produktionshaus Kampnagel beheimatet. Seit 2012 choreografiert Beyer die Deichkind-Shows.
Die 39-Jährige ist kein ausgewiesenes Kind der Popkultur. Aufgewachsen im Hamburger Norden, nahm sie als Kind Ballettunterricht und kam mit 14 an die renommierte Ballettschule John Neumeiers, einem Sehnsuchtsort der Neoklassik. Mit 14 war sie damals schon ziemlich alt. „Eigentlich wusste ich tief in mir drin, dass ich nicht gut genug bin“, erzählt Beyer. „Das ist diese Drill-Schule, wo man immer am Limit des Versagen ists, das geht wahrscheinlich 90 Prozent der Schüler*innen so.“ Nach vier Jahren war klar, dass sie nicht in die Theaterklasse übernommen werden würde. Eine Lehrerin vermittelte sie nach Rotterdam zu Codarts – Hogeschool voor de Kunsten, wo sich eine neue Tanzwelt eröffnete: „Das war der komplette Eye-Opener. Tanz war bis dahin für mich Ballett, ich habe mir nur Neumeier-Stücke angeschaut, das war schön, und alles andere war … naja“, lacht sie. In Rotterdam kam sie erstmals mit modernem Tanz in Berührung. Auch hier habe es Drill gegeben, auch hier seien bestimmte Rollenmuster bedient worden, aber die Atmosphäre sei grundsätzlich offener gewesen. Nach ihrem Abschluss kam sie über Umwege zurück nach Hamburg, für eine Residenz bei K3 – Tanzplan Hamburg auf dem Kampnagel-Gelände. Auf Kampnagel entstanden seither Stücke wie „Fluss“, „Glas“ oder „Début“, sensible, stille, fragmentarische Arbeiten, die durch ihren Mut zum kleinformatigen Detail bestechen.
Über Kampnagel kam auch der Kontakt zu Deichkind zustande. 2012 waren Plattenverkäufe zur vernachlässigbaren Größe im Musikbusiness geschrumpft. Stattdessen wurden Konzerte und die daraus generierten Einnahmen immer wichtiger – und Deichkinds Auftritte hatten schon damals den Ruf, mehr aufwendige Feiern der Entgrenzung zu sein als reine Musikpräsentationen. Kreativkopf Henning Besser entschied, dass die Liveperformances der Gruppe professionalisiert werden müssten und fragte den Kampnagel-Dramaturgen András Siebold, ob er ihm jemanden für die Choreografie empfehlen könne. Was schon einen Hinweis darauf gibt, dass hier nicht in erster Linie nach kommerziellen Gesichtspunkten vorgegangen wurde: Besser fragte eben keine Agentur, die ihm einen auf Pop spezialisierten Dienstleister vermitteln würde. Er fragte den Dramaturgen eines avantgardistisch orientierten Produktionshauses. Und der empfahl ihm Jenny Beyer.
Nachdem die Choreografin zugesagt hatte, stand die Aufgabe: Wie schafft man die Verbindung zwischen einer im Hip-Hop- und Pop-Bereich extrem erfolgreichen Musikgruppe mit zeitgenössischem Tanz? „Ich habe dann gefragt: Okay, haben die sich überhaupt schon einmal auf eine andere Art bewegt?“, beschreibt Beyer ihre Skepsis gegenüber den eingeübten Performanceritualen der Hip-Hop-Szene. „Also haben wir ein Training eingeführt. Wir haben angefangen, morgens Yoga zu machen, ein bisschen Impro, einfach ausprobiert. Es ging darum, ein Körperbewusstsein zu schulen, eine andere Art von Miteinander auf der Bühne auszuprobieren.“ Tänzerisch war das, was zu Beginn entstand, noch Konvention: Anleihen an Boygroup-Choreografien, Eins-zu-eins-Umsetzungen der Deichkind-Texte. Aber je länger die Zusammenarbeit andauerte, umso stärker gingen Beyers Choreografien in die Abstraktion.
Wobei diese Tendenz zum Abstrakten nicht ausschließlich von der Choreografin kommt, sondern auch von der Gruppe, die auf der jüngsten Platte „Wer Sagt Denn Das?“ immer tiefer in verklausulierte Wortspielereien abtauchte. „Wir haben weniger auf den Text geachtet, weniger auf Eins-zu-eins-Bebilderung“, beschreibt Beyer die Arbeitsweise. „Sondern auf choreografische Prinzipien, Improvisationsprinzipien und schließlich auf prägnante Momente. Am Ende ging es um Bilder.“ Entsteht da ein Widerspruch zwischen künstlerischem Anspruch und den Massen, die einer Mainstream-Band zujubeln? „Deichkind sind sich natürlich bewusst, dass das Pop ist, für ein riesiges Publikum. Aber die machen sich da eigentlich nicht so große Sorgen, dass das vielleicht nicht verstanden wird.“ Na ja: Wenn man während des Auftritts mit offenen Ohren durch die Hamburger Mehrzweckhalle spaziert, hört man Aussagen wie „Die Musik ist ja geil, aber den Kunstkram könnten sie auch weglassen.“ Andererseits: Das Publikum mag den Kunstkram missachten, dennoch bekommt es ihn mit. Zeitgenössische Kunst für 12000 Zuschauer*innen, das muss man erst mal schaffen.
Für Beyer bedeutet das Deichkind-Engagement ein regelmäßiges Einkommen, das zudem von Jahr zu Jahr mehr Leute aus der notorisch prekären freien Tanzszene ernährt: Unter anderem Philipp van der Heijden, Jonas Woltemate und Viktor Braun sind als Performer bei Deichkind engagiert, was zur Folge hat, dass das Zahlenverhältnis zwischen professionellen Tänzern und Rappern auf der Bühne ausgeglichen ist. „Ich verdiene mich mit Deichkind nicht dumm und dämlich“, umreißt Beyer den ökonomischen Aspekt der Arbeit, „aber es ist ein anderer Tagessatz als sonst, und das über einen ziemlich langen Zeitraum. Das läppert sich.“ Sechs Wochen Proben in Hamburg, eine Woche Endproben im Ruhrgebiet, dann noch Tourtermine – rund zwei Monate im Jahr ist die Choreografin mittlerweile mit Deichkind unterwegs.
Ist das vielleicht ein gangbares Finanzierungsmodell für die Szene überhaupt? Auch andere Bands dürften Bedarf an choreografischer Professionalität haben, oder? Beyer ist skeptisch. Zu gut funktioniert ihre Zusammenarbeit mit Deichkind, als dass sich das verallgemeinern ließe: „Ich bin eher skeptisch, was kommerzielle Jobs betrifft. Ich kriege manchmal Anfragen für Werbesachen, das mache ich nicht. Mit Deichkind, das macht Spaß, hat einen künstlerischen Anspruch, ist politisch korrekt, und ich kann damit Geld verdienen.“ Auch die Show einer Helene Fischer ist hochprofessionell choreografiert, allerdings nicht von Beyer. Und das hat seine Gründe.
2015 waren Deichkind beim schon damals indiskutablen Branchentreffen Echo eingeladen. Der Auftritt bestand darin, dass Statisten mit „Refugees Welcome“-Anzügen auf der Bühne performten (und rechtskonservative Stars wie Andreas Gabalier damit zur Weißglut brachten), während Rapper Porky aka Sebastian Dürre an der Rampe stand und von Beyer per Knopf im Ohr Anweisungen erhielt, die im Hintergrund gedoppelt wurden. Das Ergebnis war eine so absurde wie politische Performance, die die Glätte der Echo-Inszenierung konsequent ins Leere laufen ließ. „Da hat man gemerkt: Deichkind haben mit anderen Pop-Choreografien überhaupt nichts zu tun“, sagt Beyer. Was hier entsteht, ist: Kunst. Performance. Tanz. Mit gelegentlichen Saufliedern.
von FALK SCHREIBER, 17. Januar 2019
Das erste, was man sieht, sind Farben, ein Knäuel aus Kleidung, aus Leibern, das da am Rand von Marian Gegodsz’ Bühne liegt, ineinander verknotet ist, kuschelt – Jenny Beyers roter Ganzkörperbody, Chris Leuenbergers olivgrüne Camouflagejacke, Nina Wollnys rotes Schlauchkleid, Farben, Farben. Und es ist mutig von Beyer, dass sie dieses Farbknäuel erst einmal für sich stehen lässt, dass erst einmal nichts passiert, keine Aktion, kein Sound, kein Tanz, um Wollny endlich aus der Umarmung zu befreien, eine Tänzerin, die erst kleine Bewegungen vollführt, tastend, unsicher erst, um dann den Schritt aus dem Minimalismus in eine laute, expressive Tanzsprache zu wagen, bis sie sich zum Ende ihres Solos ins Publikum setzt und dort bleibt, zuschaut, was die anderen Drei machen. So funktioniert Beyers „Début“, als Abfolge von vier Soli, die den jeweiligen Tänzerinnen und Tänzern viel Freiheit lassen, radikal bei Matthew Rogers, sinnlich bei Leuenberger, vielstimmig bei Wollny, als Finale bei Beyer durchzogen von einer freundlichen Ironie (und es gehört auch zum Bericht, zu sagen, dass die Spannung des Abends im Mittelteil ein wenig durchhängt). Zusammengehalten wird das von der Bereitschaft Beyers, in einer Feier des Körpers Individualität zuzulassen, Disparates, Unangenehmes, Umarmung, Nähe. Des queeren, diversen, fremden Körpers.
Online unter: https://viereinhalbsaetze.com/2019/01/17/245/
Gemeinsam ganz allein
von KATRIN ULLMANN, 19. Januar 2019
Ein unentwirrbar scheinendes Menschenknäuel kauert seitlich der Bühne. Gliedmaßen überlagern sich, Gesichter sind verdeckt. Wie viele Körper sind da ineinander verstrickt? Rot, schwarz, Haare, Stoffe, Füße, Pullover, Strumpfhosen. Nur langsam schält sich ein Körper heraus und betritt die leere, mit weißem Tanzboden ausgekleidete Bühne, ein weißer Fond begrenzt sie zur Rückwand. Nina Wollny tritt heraus aus der Körperskulptur und übernimmt das erste Solo dieses Abends auf Kampnagel in Hamburg, drei weitere werden folgen. Von Chris Leuenberger, Matthew Rogers und schließlich von der Choreografin selbst: Jenny Beyer.
Mit ihrem Stück „Début“ will Beyer (erneut) die Begegnung mit dem Publikum erforschen. Ein Thema, das die Hamburgerin schon lange umtreibt und eines, mit dem sie immer wieder in ihren „Offenen Studios“ arbeitet. Während der Proben lädt sie das Publikum ein, an der Entwicklung ihrer Stücke teilzuhaben. Ganz bewusst sucht sie den Austausch, den Einfluss. Und womöglich sieht sie im Zuschauer einen Komplizen. Mehr vielleicht, als der Zuschauer sich selbst in dieser Rolle sehen mag. Sicherlich ist jedes Bühnenereignis eine Begegnung zwischen Performer und Publikum. Doch in dem Maße, in dem sich Beyer diese Interaktion herbeidekliniert, geht die Rechnung kaum auf.
Nacheinander machen die vier Soli durch die ganz unterschiedliche Körperlichkeit der Tänzer*innen, durch schnelle oder ruhige, meist post-klassische Bewegungsabfolgen, vier verschiedene Assoziationsräume auf. Mal fragend und ausbalancierend, mal animalisch, dann wieder beunruhigt, zögernd – und immer mit einer hohen Präzision, mit einer fast traumwandlerischen Sicherheit. Je etwa 15 Minuten lang ist die einzelne Tänzer*in im Scheinwerferlicht den Blicken des Publikums ausgeliefert.
Unbeirrt und unbeirrbar
In ihrer Nahbarkeit, in ihrer exhibitionistischen Zerbrechlichkeit berühren die vier Auftritte. Sie scheinen von Zweifeln zu erzählen und vom steten Austarieren bei Nina Wollny; vom Eratmen einer Stimmung und von der Möglichkeit des rohen Ausdrucks bei Chris Leuenberger; von Rausch, Aggression und Lust bei Matthew Rogers; und von einem Repertoire an fragenden Gesten und suchenden Erinnerungen bei Choreografin Beyer.
Untermalt, zum Teil auch getrieben von minimalistischen Rhythmen, von Klavierakkorden, manchmal auch nur von geloopten Atemgeräuschen (Musik: Jetztmann), verbreitet der Abend eine friedliche, fast beruhigende Stimmung. Die Bewegungen sind schön, die Bühne ist minimalistisch, die Tänzer hoch qualifiziert, sie erobern sich den Raum voller Kraft und Hingabe. Man kann sich der Ästhetik des Abends schwer entziehen. Zu gern verliert man sich in den anmutigen und athletischen Abfolgen, in den getanzten Gedankenwelten der Performer*innen.
„Können die Solist*innen – im Angesicht ihres Publikums – ihre Handlungsautonomie bewahren?“, fragt der Pressetext. Diese Überlegung scheint für Beyer gewissermaßen die Gretchenfrage zu sein. Und auch wenn sich aus ihrem langjährigen, festen Ensemble an diesem Abend erstmals jeder Einzelne aus der Gruppe herauslöst, jeder seine Besonderheiten, seine ganz eigene Kunst darbietet – der Zuschauer bleibt Betrachter. Er ist in dieser Konstellation zwar das eigentliche Gegenüber, hat aber keinen (sichtbaren) Einfluss auf die jeweilige Choreografie, auf die Stimmung oder die nächsten Schritte. Zu entschieden sind die Abläufe gezeichnet, zu verbindlich die bühneninternen Verabredungen getroffen.
Unbeirrt und scheinbar unbeirrbar, dazu oftmals vom Zuschauer abgewandt, erzählen die vier Solisten von der einsamen Vereinzelung des Tänzers genauso wie von der herrlichen Lust an der ungeteilten Aufmerksamkeit. Was fehlt, sind raue Stellen, Brüche, Irritationen. Und so dreht dieser Abend ein wenig zu glatt und geschmeidig seine Pirouetten, und seine glatte Oberfläche bleibt ganz ohne Kratzer.
Online unter: https://taz.de/!5566026/
Nennung als Choreographin des Jahres 2019
Jenny Beyer (Hamburg) für „Début“ als so humorvolles wie virtuoses Spiel mit Publikumszuschreibungen
FALK SCHREIBER
Jenny Beyer zeigt vier kraftvolle Soli auf Kampnagel
von ANETTE STIEKELE, 18. Januar 2019
Début – Anfang – nennt die Hamburger Choreografin Jenny Beyer ihre neue Produktion. Dabei ist es streng genommen gar kein Neubeginn. Denn die vier Tänzerinnen und Tänzer, darunter Beyer selbst, begeben sich nicht zum ersten Mal auf eine Spurensuche im Dialog mit dem eigenen Körper, den Präsentationsraum auf Kampnagel und der Wahrnehmung durch das Publikum. Alle vier kennen sich von mehreren gemeinsamen Arbeiten und auch Soli sind so bereits entstanden.
Vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrungen fallen die tänzerischen Ergebnisse der Solotänzer höchst unterschiedlich aus. Nina Wollny beginnt zu den rhythmischen Motorsounds des Musikers Jetztmann erst den Kopf, dann den Oberkörper hin und her zu wiegen. Schließlich erobert sie sich vor allem den weiß ausgelegten Boden samt aufragender Leinwand mit lang gehaltenen, hoch konzentrierten Figuren, die eine beachtliche Schwerelosigkeit zu entwickeln scheinen und Sinnlichkeit ausstrahlen.
Der Tänzer Chris Leuenberger wiederrum sampelt laute Atemstöße, die nach und nach in ein Stöhnen übergehen und die Rohheit von Janis Joplin's konzertant performten "Work me Lord" aufgreifen. Dazu bewegt er seinen auf geschossenen, filigranen Körper mit ausladender Eleganz. Die Stimmexperimente fordern die Zuschauer ganz schön heraus. Doch je länger das Solo dauert, umso mehr findet Leuenberger zu überraschenden Wendungen. Schließlich räumt er das Feld für Matthew Rogers. Dieser ebenfalls filigrane, fein nervige Tänzer erforscht ganz pur nur mit einem leuchtend roten Lendenschurz bekleidet körperliche und seelische extrem Zustände von Ekstase bis zur Meditation. Formal erschafft er ein Ritual mit schön ausgearbeiteten Überschlagsfiguren. Rogers wechselt die Dynamiken. Mal konzentriert er sich auf eine Tantra Übung, dann wieder erobert er sich im Lauf den Raum.
Der kollaborative Charakter von Début wird allerdings kaum sichtbar. Die einzelnen Teile stehen einander recht disparat gegenüber. Der Gewinn liegt in der Vielzahl individueller Handschriften. Den Schlusspunkt setzt die Choreografin selbst. Jenny Beyer sucht und findet langsame, feine Gesten bis in die oft gekrümmten Fingerspitzen, die sich nach und nach in ihrem Körper fortsetzen. Sie erforscht eher Stille, Haltung, richtet den Blick nach innen. Ein Tanzexperiment, auf das man sich einlassen muss.
DIE KRAFT DER INDIVIDUALITÄT
von ANETTE BOPP, 20. Januar 2019
Die Tänzerin und Choreografin Jenny Beyer ist auf Kampnagel keine Unbekannte – schon mehrfach hat sie im Zuge von K3 Tanzplan Hamburg Stücke gezeigt. Im kraftvollen neuen Stück zeigt sie vier Soli für zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer.
Am Anfang steht die Stille. Es dauert einige, sich wunderbar dehnende Minuten, die vom Publikum eine gehörige Portion Geduld abfordern, bis sich aus einem Knäuel von vier ineinander verschränkten Menschen am Rand des Bühnenrechtecks eine Person löst. Langsam begibt sie sich auf den weißen Tanzteppich in der ansonsten kahlen K2. Am hinteren Ende der Bühnenfläche ist ein großer Stahlbalken herabgelassen, über den sich der Tanzteppich nach oben zieht. Immer wieder wird im Zuge des gut 70 Minuten dauernden Stücks der Balken nach oben und unten gefahren und die Grenzen verschieben sich.
Die Person, die sich aus dem Menschenknäuel herausgeschält hat, ist Nina Wollny, eine kraftvoll-ästhetische Tänzerin in knallrotem Hosenanzug. Still steht sie mit dem Rücken zum Publikum vor der weißen Wand des Tanzteppichs auf dem inzwischen hochgefahrenen Balken. Sie beginnt den Kopf zu schütteln, kaum merklich zuerst, nur erkennbar an den leise zitternden, langen, schwarzen Locken. Nach und nach steigert sich das Zittern zu einer heftigen Ganzkörpererschütterung, die in einen wilden, ekstatischen Tanz mündet. Raumgreifend erobert sich Nina Wollny die Fläche, verausgabt sich in nimmermüder Bewegung, bis sie sich einen freien Platz im Publikum sucht und hinsetzt, als sei sie selbst nicht Teil des Geschehens, sondern passive Zuschauerin. Erst viel später steht sie von dort wieder auf und stellt sich an eine Säule neben der Zuschauertribüne.
Sobald Nina Wollny auf ihrem Platz sitzt, löst sich ein Mann aus dem menschlichen Knäuel, kniet sich vor eine Zuschauerin in der ersten Reihe und atmet stoßweise hörbar aus und ein. Diese Atemgeräusche werden auch über die Lautsprecher eingespielt, so dass man gar nicht mehr weiß: Was kommt vom Tänzer, was ist „Musik“? Aber das ist letztlich auch egal, denn der große, feingliedrige Tänzer (Chris Leuenberger) in engen roten Boxershorts und schwarz-weißem Pullover entwickelt jetzt ein hin- und herwogendes Tanzsolo, immer wieder begleitet von jodelnden Gesängen, bis er – immer noch lauthals singend – durch eine Tür im Hintergrund abgeht. Das ist ebenso amüsant wie beunruhigend und verstörend.
Es folgt ein weiterer Tänzer (Matthew Rogers) – diesmal nur mit einem knallroten Lendenschurz bekleidet. Er liefert sich einen Fight mit einem großen, weißen Schaumstoffkissen, das er mal schreiend prügelt, mal zärtlich liebkost. Es ist ein Steigen und Fallen, Springen und Laufen, wie gehetzt, und doch in sich ruhend.
Erst zum Schluss kommt Jenny Beyer selbst auf die Bühne, in rotem Beintrikot und blauem Sweatshirt, das ihren schon sehr deutlichen Babybauch kaum zu verhüllen vermag. Sie verharrt in stillen Posen, als würde sie nach innen lauschen. Meditativ sind ihre sparsamen Bewegungen, wie in Zeitlupe, immer wieder zur Ruhe kommend, stehenbleibend, bis zum Schluss alle vier TänzerInnen zusammenfinden und sich in einer Reihe aufstellen. Aus vier wird eins, eins teilt sich in vier.
Jenny Beyer ist hier ein trotz der Soli komplexes, hoch konzentriertes Stück gelungen, das die Kraft der Individualität anschaulich verdeutlicht, indem es die Verletzlichkeit, aber auch die unbändige Stärke zeigt, die Menschen zu eigen ist.
THE BODY OF THE BODIES
by ANNA SEMENOVA-GANZ, 18. Januar 2019
"Début" by Jenny Beyer at Kampnagel Hamburg
The four dancers Jenny Beyer, Chris Leuenberger, Matthew Rogers and Nina Wollny have been working together for a few years and know each other very well. Each one of them created an independent solo.
In her new piece Jenny Beyer explores the autonomy, intimacy and closeness which happens between a dancer and the audience in the format of the solo. Although that is not a real solo, because the choreographer works in the group of four dancers and each of them appears on the stage to perform his or her solo. Together they form the whole performance “Début”. Although it is not a real debut ... more like a debut of debuts of the solos, if you understand what I mean.
The group of four dancers is intertwining with each other outside of the stage; one body disconnects from the crew and moves to the stage. It is a female body and her repetitive energetic movements of the head make the edges of her curly hair move with the delay, for a moment the feeling of physical impossibility in distribution of the speed emerges. A small gap in reality. Dancer Nina Wollny is pregnant, but as she starts her solo with the back to the audience this becomes clear only after a while. The transformation of the female body was not in focus of the research, it came together with the body, constructing a new attitude and a new quality of the spectator’s attention.
After Wollny finishes by hiding between the spectators, Chris Leuenberger replaces her on the stage. Again, we see a single body, but it comes unavoidably in the relation with the previous one, revealing the difference in the material and in quality. Leuenberger works with his breath as a sound scape and includes the sound deconstruction in his work, while Nina used electronic music for her part.
All four dancers have been working together for a few years and know each other very well: creating an independent solo inside of such group seems like a real challenge. Sometimes one may notice the references between the movements, but, as dramaturg Igor Dobričič noticed: „These are the traces of the common group memory and there was no intention to create any relation between the solos.“ They are just unrelated elements put together, what can be described through a difference between collage (a combination of suiting elements) and assemblage (bringing together the things which are not meant to suit). Four solos in one “Début” are the assemblage.
After Leuenberger leaves the scene with literally slamming the door, Matthew Rogers shows his work, where he is almost naked, vulnerable and dependent on the object he interacts with, treating it like the burden and his precious at the same time. Jenny Beyer is the last one presenting her solo - a different story without any attempt of concluding or summarizing the piece. She also starts with the back facing the audience and also brings the spectator to the state of uncanny through her movements, mimic and, last but not least, because she is also pregnant.
Beyer sees all her projects at the timeline, she knows where she came from and is aware of where she intends to go. She has started this project as a research about intimate relations between performer and the audience, but the transformation of her own body and the moment of the spectator’s recognition turns the vector of communication in another direction. Her body surprises with its state of transformation and brings the perception of the openness to a new level.
All four bodies are different and have their own qualities, in the end all of these bodies, male and female, pregnant and not, merge into one. Because everything you saw during the whole work was a single body on stage, the body of the bodies. It has female features, male features, it transforms, but it always stays open for the spectator.
Fließende Übergänge ins Publikum
Jenny Beyer beendet mit "Fluss" ihre Kampnagel-Trilogie über Tanz und Zuschauer
von FALK SCHREIBER, 01. Dezember 2017
Hamburg. Man muss seine Tasche am Eingang abgeben. Tasche, Mantel, eigentlich alles, was einen behindern könnte. Choreografin Jenny Beyer wünscht sich, dass das Publikum bei ihrem Stück "Fluss" ungebunden durch die Kampnagel-Räume fließt. Muss man etwa mitmachen? Man muss, und es ist vor allem dem freundlichen Lächeln Beyers zu verdanken, dass sich das Publikum nicht kollektiv verweigert, sondern die Bühne verlässt, in die Kälte des Theatervorplatzes spaziert, durch die Foyers und Hallen. "Wir möchten mit euch die Bühne verlassen, Luft schnappen … Lasst uns also ein paar Schritte gehen und den Abend gemeinsam eröffnen." Kann man da Nein sagen?
Nein, kann man nicht, also zieht man los, hält kleine Lautsprecher in den Händen und erzeugt so eine Klangkulisse aus an- und abschwellenden Gesängen. Man fragt sich, ob das noch als Tanz durchgeht oder doch eher eine Art Nachtwanderung darstellt, und übersieht dabei fast, dass Beyer und ihre Mitstreiter Chris Leuenberger, Matthew Rogers und Nina Wollny zwischen den Zuschauern wuseln und unmerklich in den Tanzmodus wechseln. Plötzlich ist da eine angedeutete Paarnummer, eine Hebefigur, ein Solo, aus dem Nichts, aus der Bewegung des Publikums, ebenso plötzlich ist diese Ahnung von Tanz wieder verschwunden. Beyer, klassisch ausgebildetes Aushängeschild der zeitgenössischen Tanzszene Hamburgs, hat einem die Choreografie untergejubelt, spielerisch, ironisch, freundlich.
Im zweiten Teil wird "Fluss" konventioneller, sind die Grenzen zwischen Publikum und Performern wiederhergestellt. Rogers' nackter Körper knallt klatschend auf den Bühnenboden, der Atem keucht, man sieht keine freundliche Aufforderung zum Tanz mehr, man sieht Arbeit. Der spielerische Charakter der Performance ist weiterhin da, aber das Spiel ist grob geworden.
Ganz kann Beyer die Spannung der Eröffnung nicht durchhalten, der Plan, "Tanz unter der Prämisse von Zusammenkunft zu befragen", löst sich auf in stimmungsvolle, kräftezehrende Bewegungsfolgen. Vielleicht ist "Fluss" einige Minuten zu lang geraten, ein starkes Statement ist der Abschluss von Beyers Trilogie (nach "Liebe" 2015 und "Glas" 2016) zum Verhältnis zwischen Tanz und Publikum gleichwohl. Wegen der tänzerischen Qualität des Gezeigten, natürlich. Aber auch wegen der freundlichen Ernsthaftigkeit, mit der Beyer ihr Thema angeht.
Jenny Beyers Stück "Glas" feiert in Freiburg Premiere
by ANETTE HOFFMANN, 17. November 2016
Der Titel von Jenny Beyers jüngstem Stück "Glas" benennt die Wand zwischen Künstlern und Zuschauern und macht sie zugleich transparent. Heute ist Premiere im Freiburger Theater.
Vermutlich hätte sich die 16-jährige Jenny Beyer sehr über die heutige Jenny Beyer gewundert. Themen wie Partizipation und Nähe zum Publikum waren ganz sicher nicht ihre gewesen. Damals stand für die 1981 geborene Hamburgerin fest, dass sie Ballerina wird. Der Druck in der Ausbildung sei groß gewesen, erinnert sie sich. Heute prägen familiäre Strukturen ihre Arbeit. Vor zweieinhalb Monaten ist sie Mutter geworden und steht deshalb nicht selbst auf der Bühne. Ihr Vater Horst Petersen, der unter seinem Künstlernamen Jetztmann die Musik für ihre neue Produktion schrieb, hat sie nach Freiburg begleitet, ihr Freund tritt manchmal in ihren Stücken als Gitarrist auf. Und die Tänzer Chris Leuenberger, Matthew Rogers und Nina Wollny kennt sie seit langem.
DER MUT ZUM EXPERIMENT
Jenny Beyer besuchte die renommierte Schule des Hamburger Balletts und visierte eine Karriere an der Staatsoper an. Doch da war eben die Sache mit dem Spitzentanz. Beyers Füße rebellierten. Anstatt aufzugeben, ging sie an die Rotterdamse Dansacademie. Das Studium, das sie dort absolvierte, war auch auf hohem technischem Niveau, aber lockerer und freier. Und es gab dort Körper, die in ihrer Verschiedenheit nicht den Normen des klassischen Balletts entsprachen. "Tanz kann ganz, ganz viel sein. Ich entdeckte, was ich mit meinem Körper machen kann", sagt Jenny Beyer.
Zum Choreografieren kam die blonde Hamburgerin erst am Ende der Ausbildung. Sie entwickelte für Chris Leuenberger, der auch in ihrer aktuellen Produktion "Glas" im Kleinen Haus des Theaters Freiburg zu sehen sein wird, ein Solo. Deutlicher könnte der Unterschied kaum sein: männlich, ohne klassische Ausbildung, anfangs eher ein Performer als ein Tänzer. Ausgehend vom größten Gegensatz zu ihrem eigenen Körper hat sie sich mit dem klassischen Ballett versöhnt. Dass Jenny Beyer an einer Trilogie über das Verhältnis zum Publikum arbeitet, hat einerseits pragmatische Gründe. Sie hatte sich für die dreijährige Konzeptionsförderung der Stadt Hamburg mit diesem Projekt beworben und sie bekommen. Jenny Beyer ist sozusagen ein Hamburg-Import der Spartenleiterin Anne Kersting, der die Choreografin und Tänzerin bereits in der Hansestadt aufgefallen war. Bekanntlich ist das Budget der dritten Sparte nicht eben groß und Jenny Beyer wiederum eröffnet diese Koproduktion mit dem Theater Freiburg die Möglichkeit, ihre Stücke in einer zweiten Stadt zu zeigen.
Die Auseinandersetzung mit dem Publikum, der Titel ihres jüngsten Stückes "Glas" benennt die Wand zwischen Künstlern und Zuschauern und macht sie zugleich transparent, ist ihr andererseits eine wirkliche Herzensangelegenheit. Sie praktiziert sie auf und jenseits der Bühne. Jede Öffnung, sagt sie, jeder Dialog, sei im Grunde politisch. Natürlich kennt Beyer die Berührungsängste gegenüber zeitgenössischem Tanz, kurzerhand hat sie die Vermittlung zum Teil ihrer künstlerischen Arbeit erklärt. "Es war mir ein Bedürfnis in Dialog zu treten. Ich habe mich gefragt, für wen mache ich das, wie viel kommt davon an", sagt Beyer. Sie lud ihr potenzielles Publikum zu Proben ein und hatte kaum mehr als ihre gewinnende Offenheit und ihr Selbstbewusstsein zu bieten, dass das, was sie macht relevant ist.
Beyer ist eine Choreografin, die Mut zum Experiment hat. Der Anfang einer Produktion sei ein "weißes Blatt". Mehr als eine grobe Dramaturgie gebe es nicht, wenn die Arbeit mit den Tänzern beginne. Manchmal, wie bei ihrer Choreografie "All" projiziert sie Fotos als Ausgangsmaterial für Improvisationen auf die Wände, um die Welt ins Studio zu holen. Während der Proben filmt sie ausgiebig und editiert ihr Material wie eine Cutterin. Um es dann auf der Bühne wieder zu lebendigen Bewegungsabläufen in Echtzeit zusammenzusetzen.
Premiere von "Glas": Freiburg, Kleines Haus, Donnerstag, 17. 11. 2016, 20 Uhr.
Getanzte Nähe
von TOM R. SCHULZ, 21. Mai 2015
Jenny Beyer beschert den Zuschauern einen unvergesslichen Abend. Klug, sinnlich, verspielt und geradezu unwahrscheinlich verbunden.
„Setz dich hin, wo du willst“, sagt ein Tänzer am Eingang. „Bitte zieh dir vorher die Schuhe aus. Hier, willst du ein paar Socken über deine Strümpfe ziehen?“ Ungewohnte Fürsorge und ungewohnte Publikumsansprache sind Programm bei „Liebe“, dem neuen Stück der Hamburger Choreografin und Tänzerin Jenny Beyer, das am Mittwoch auf Kampnagel seine Uraufführung erlebte. Mit Nina Wollny, Chris Leuenberger und Matthew Rogers, drei ihr schon seit Jahren vertrauten Tänzern, hat Beyer eine Performance entwickelt, die ohne die Mitwirkung an ihrer Kunst interessierter Außenstehender nicht denkbar wäre. Seit vergangenen Oktober hat sie bei insgesamt 14 offenen Ateliers Leute in ihr Studio gelassen, ihnen zugehört, für sie getanzt. Erst allein, bald mit den drei Kollegen. Beyer hat alles gefilmt, aus dem Material Sequenzen zusammengefügt und sie zu einer Choreografie verdichtet.
Auf Socken betreten wir Zuschauer den mit hellem Tanzboden ausgelegten Raum. Die Tänzer, zwei Frauen, zwei Männer, dehnen derweil ihre Körper in wie improvisiert wirkenden Warm ups, zwei üben gerade eine komplizierte Hebung. Sie schauen uns Zuschauern dabei zu, wie wir unseren Sitzplatz auf einer der wahllos herumstehenden Bänke auswählen, sie nehmen auch verbal Kontakt mit uns auf. Von Anfang an etablieren die Tänzer eine unaufdringliche Nähe zum Publikum, die so gar nichts von der Encounter-Härte hat, mit der Zuschauer sonst bisweilen bei solchen Performances zum Mittun auf der Bühne genötigt werden.
„Wann bin ich nah, wann bin ich fern?“, fragt Jenny Beyer eine Zuschauerin, und tariert mit deren Hilfe das richtige Maß aus Nähe und Distanz aus. „Jeder Blick ist eine Berührung“, vereinbart sie mit einer anderen. Und lässt sich von deren Blick zu Bewegungen inspirieren; spontaner Ausdruck des Augenkontakts, den beide zulassen.
Die maximale Nähe des Blicks des Menschen auf den Menschen stellt Beyers Quartett sehr früh her. Die vier ziehen sich komplett aus, leben aber ihre ritualisierte Nacktheit in dieser Sequenz auf sehr unterschiedliche Weise und weit voneinander entfernt aus. Wir spüren: Dies ist keine Einladung zum Voyeurismus. Nacktheit soll nur als Thema nicht unterschwellig mitlaufen. Hat sie explizit stattgefunden, so das Kalkül, wird der Kopf leichter frei für andere Wahrnehmungen von Nähe.
Wie vier Mensch gewordene Elementarteilchen bespielen die Tänzer das Feld innerhalb und außerhalb des Bühnenraums, den wir irgendwann gemeinsam aus den Holzbänken errichten. Ein unvergesslicher Abend. Klug, sinnlich, verspielt und geradezu unwahrscheinlich verbunden.
von IRMELA KÄSTNER
Jenny Beyer sieht Bilder, unter deren Oberfläche spürt sie die Bewegung auf. Und sie sieht Musik, deren Rhythmus die Bilder ins Fließen bringen. Leicht, wie hin getupft, nimmt ihr Tanz die Impulse auf und zeichnet doch deutlich klare Figuren. Choreografie begreift sie als ein Bilder rezipierendes und produzierendes Medium; das zu erforschen, aus immer wieder neuer, thematisch spezifischer Perspektive, nimmt sie als stete Herausforderung an: als Tänzerin, die vom klassischen Ballett zum modernen zeitgenössischen Tanz gewechselt hat, sich dennoch Technik und ihre Linie erhalten hat, und als Choreografin, die konzeptionell weit blickt, umfassende Bögen spannt und kuriose Verbindungen zieht. Das Teatrum Mundi des Barock, in dem Kunst, Wissenschaft und Religion sich zu einer neuen Weltsicht ordnen, dient ihr beispielsweise in ALLl als Spiegel heutiger kultureller und medialer Sichtweisen. Bezüge zu zurückliegenden Epochen öffnen ihr oftmals ein choreografische Spektrum und Spannungsfeld, in das sie spielerisch und neugierig eintritt, dass sie interdisziplinär mit innovativen Teamgeist erkundet. Als Tänzerin für andere Choreografen wie Anti Pfundtner zeig die gebürtige Hamburgerin gern ihre komödiantische Seite. Sich in Gemeinschaft auszuprobieren, offen und kollaborativ, entspricht ihrem künstlerischen Naturell. Selbstverständlicher Konsequenz daraus war die Mitgründung des internationalen Netzwerk Sweet & Tender „Seid nett zu einander“, lautet die Devise. Heterarchie statt Hierarchie. Aus der Selbstorganisation schöpft sie jede Menge Potenzial.
von ELISABETH BURCHARDT
30. April 2014
Online unter: https://soundcloud.com/jennybeyer/radiocritic_duett-ndr-903-3042014
von SUSANNE BIRKNER
30. April 2014
Online unter: https://soundcloud.com/jennybeyer/radiokritikduettessohauser_ndr-kultur
Tanztheater übersetzt Katastrophen in Körperbilder
von KLAUS WITZELING, 19. April 2013
Hamburg. Darf man ein Tanzstück über den Tsunami wagen? Solchen Katastrophen künstlerisch gerecht zu werden, kann nicht nur scheitern, sondern auch peinlich wirken. Jenny Beyer entgeht der Gefahr, weil sie das Ereignis in einen allgemeinen Kontext stellt, die Ohnmacht und Verletzlichkeit des Menschen gegenüber den Naturgewalten thematisiert. Zudem entwickelt sie mit dem exzellenten Performer-Quartett für die Kampnagel-Uraufführung des Körpertheaters "All" eine schlichte, strenge Form.
Die Tänzer führen die Besucher in Gruppen zur Besichtigung eines Unglücksorts. Oder ist es doch die Bildergalerie in einem Museum der Erinnerung? Schwarze Gazeschleier begrenzen die leere Bühne, schaffen eine Perspektive und den "Rahmen" für die sich oft in Zeitlupe und absoluter Stille entfaltenden Körperbilder, die dem Zuschauer ganz nahe rücken, dann wieder von ihm wegdriften.
Sayaka Kaiwa, Nina Wollny, Antoine Effroy und Matthew Rogers verlieren sich in der Weite der giftgrün leuchtenden sich über ihnen öffnenden oder bedrohlich verdunkelnden Fabrikhallen-Konstruktion. Sie agieren hilflos ausgesetzt in der raffinierten Licht- und eruptiv in die Stille einbrechenden Klanginstallation. In expressiven Posen und Gruppenbildern illustrieren sie Schrecken und Verzweiflung, die Trauer um Tote und das Spenden von Trost.
In Ästhetik, Komposition und Pathos zitiert die Choreografin auch Stilelemente barocker Gemälde. Sie setzt auf Reduktion, bietet dem Betrachter – im Gegensatz zu den Sensationsfotos in den Medien – eine Art Animation, die Bilder im unmittelbaren Kontakt mit den Performern zu erfahren und zu ergänzen. Damit gelingt Beyer der eigentliche Überraschungscoup.
von ELISABETH BURCHARDT
08. Mai 2012
Online unter: https://soundcloud.com/jennybeyer/kritik-ndr-90-3
Tanz auf Kampnagel: Von der Magie und dem Verlust der Anmut
von KLAUS WITZELING, 14. April 2011
Jenny Beyers Choreografie im von Zuschauern gesäumten Bühnengeviert irritiert dagegen. Dani Brawn und Rani Nair, hellblau gewandet, wiegen sich minutenlang in nymphenhalfter Unschuld. Irgendwann bricht in ihr stilles selbst vergessenes Spiel ein grobes Brummen und Summen ein. Der Sound Künstler Jassem Hindi ist am Werk, zerreißt etwas, schlägt mit Stöckchen, kontrapunktiert die im Reigen sich drehenden springenden Tänzer. In Beyers Choreografien verlieren die Körper allmählich ihre Anmut, Harmonie und Natürlichkeit. In der modernen Welt hat es sich endgültig ausgewalzert. Beyer blickt zurück ohne Zorn. Und demonstriert in ihrer stringenten Choreografie die Deformation der Schönheit und Entfremdung vom Körper.
von KLAUS WITZELING
Eins, zwei, drei: Solo, Duett und Trio. Damit spielen Jenny Beyer, Anja Müller und Chris Leuenberger in ihren auf die Probebühne der Kampnagelfabrik in Hamburg hingeworfenen Tanzskizzen namens «III». Im leichtfüßigen Zappen durch bekannte Stile und Choreografien demonstrieren sie ihr Bewusstsein, in der Tradition verankert zu sein, schaffen zugleich aber selbstbewusst Distanz zur Vergangenheit. Humorvoll und vital behauptet das Trio sein präzis komponiertes Kaleidoskop aus choreografischen Anspielungen und persönlichem Ausdrucks- und Stilwillen.
Im solistischen Mit- und Gegeneinander bezweifelt es mit einem legeren Achselzucken die Behauptung von Einzigartigkeit und Autorschaft im Tanz. Nicht nur fürs Fachpublikum erweist sich «III» darum als ein amüsantes Vergnügen. Vielleicht ist es deshalb Beyers bisher reifs-te Arbeit. Uneitel auf den alleinigen Inszenierungsanspruch verzichtend, entwickelte sie den Solodreier oder das Dreiersolo im Zusammenspiel mit adäquaten Partnern und Ko-Choreografen. Rechts hinten in der Ecke ein Samtvorhang. Bühnchen im kahlen Bühnenraum. Zeichen aus alter Zeit, das Tänzerherzen höher schlagen lässt. An den großen Auftritt nach dem Glanzsolo denken sie. Zum Baden im Beifall. Anja Müller kommt auf die Bühne, schmiegt sich dem Vorhang gegenüber an die Wand. An ihr entlang wandelnd, fixiert sie den Traumort, beschwört wie magnetisch angezogen in Ausdruckstanzpassion ihr Kunstwollen, macht sich sanft über die derzeitige Rekreationsmanie lustig.
In der Vip-Lounge: Tänzer, Choreografen, Macher – die hoffentlich die Zukunft des Tanzes bewegen
von KLAUS WITZELING
Fragende, forschende Blicke zwischen den Zuschauern und den Tänzerinnen Sayaka Kaiwa und Jenny Beyer. Die Hamburger Choreografin zwingt das Publikum mit sanfter Hand und zarter Ironie in Konzentration und einen stummen Dialog mit ihren subtilen, lässig in den Raum gestellten, gefegten, gerollten, geposten, gewischten Körperbildern. «Tableau Doublé», ihre Abschlussarbeit beim Residenzprogramm im K3-Zentrum für Choreographie/Tanzplan Hamburg, kommt im scheinbaren Stillstand ihres assoziativen dreidimensionalen «Bodypaintings» einer Provokation gleich. Beyer fordert im permanenten medialen Buntbilderbeschuss die Geduld und Zeit heraus, um wieder (hin)sehen zu lernen. Das kristallklare Beispiel für eine bildender Kunst verpflichtete Konzeptarbeit fußt buchstäblich auf hohem tänzerischen Können, stellt es aber nie aufdringlich aus, entfaltet aus konsequenter Zurücknahme eine rätselhafte Faszination.
Bei John Neumeier ist die Hamburgerin (Jahrgang 1981) in die Ballettschule gegangen, hat aber rasch eigene Wege eingeschlagen, ging nach Rotterdam, arbeitete mit der Kompanie Koorts, wurde 2003 bei der euroscene Leipzig für das beste Tanzsolo ausgezeichnet. Jenny Beyer erweist sich auch als eine vielseitige, durchaus komödiantisch begabte Tanzperformerin, wie zuletzt in Antje Pfundtners «Res(e)t».
Um nicht nur auf Angebot und Nachfrage von Choreografen oder (Festival)-Veranstaltern zu reagieren oder darauf angewiesen zu sein, hat sich Jenny Beyer Sweet & Tender Collaborations angeschlossen. Dem interdisziplinär ausgerichteteten Austauschforum gehören über 30 internationale Künster an: vom iranischen Desig-ner über portugiesische Performer und Publizisten bis zu deutschen Theatermachern, japanischen Choreografen und Tänzern, darunter auch ihre «Tableau Doublé»-Partnerin Sayaka Kaiwa.
Das Netzwerk zu Produktionszwecken funktioniert virtuell ohne großen Organisationsaufwand über Internet mit konkreten jährlichen Treffen – erstmals 2007 beim Performing Arts Forum (PAF) im französischen Dorf St. Erme nordöstlich von Paris.